Die Fahrt
Denes | Oct. 12, 2025, 7:46 p.m.
Dorian schaute verträumt aus dem Fenster
Im Hintergrund vernahm er das gleichmäßige Rattern der Räder, das sich mit den vorbeiziehenden Landschaftsbildern zu einem hypnotischen Rhythmus verband. Diese Symphonie aus Bewegung und Sound ließ seine Gedanken schweifen und versetzte ihn in einen tranceähnlichen Zustand.
Die Zeit verstrich, und Dorian ergab sich völlig dieser Entrücktheit. Er bemerkte kaum, wie sich draußen die Dunkelheit ausbreitete und die ersten Laternen aufblitzten. Die Lichtschatten, die sich nun in regelmäßigen Abständen durch die Kabine warfen, schienen mit dem melodischen Rattern der Räder zu verschmelzen.
Plötzlich, mitten in der Stille, durchfuhr ihn ein eisiger Schauer. Die Gewissheit, nicht mehr allein zu sein, kroch ihm den Nacken hinauf. Er fuhr herum und spähte in den halbdunklen Raum – nichts als die abgenutzten Polster der leeren Sitze. Sein Blick wurde wie von unsichtbarer Hand zur Kabinentür gezogen. Für einen Augenblick meinte er, eine reglose Silhouette in der Schwelle zu erkennen. Er starrte, bis seine Augen schmerzten, doch da war niemand. Nur das beklemmende Gefühl einer fremden Präsenz, die sich wie ein Schleier über den Raum gelegt hatte.
Verwirrt schob Dorian die Empfindung auf die Übermüdung und wandte sich wieder dem Fenster zu.
Kurz darauf ratterte der Zug in einen Bahnhof ein. Das gleißende Licht der Bahnhofshalle flutete durch das Abteil und ließ die Schatten flüchten. In diesem Moment glitt die Schiebetür mit einem surrenden Geräusch zur Seite. Eine Stimme fragte: „Ist hier noch frei?“
Dorian drehte sich um und erstarrte. Im Türrahmen stand eine schlanke Frau. Ihr Haar glühte wie Kupfer im künstlichen Licht, und ihr blasses, vollmondrundes Gesicht schien zu leuchten.
„Ja“, brachte er schließlich hervor, „bitte setzen Sie sich.“
Kaum hatte die Frau Platz genommen, ertönte ein hämmerndes Klopfen an der Tür. „Ich würde jetzt gerne die Betten vorbereiten!“, rief eine Männerstimme.
Dorian öffnete, und der Schaffner trat mit sicherem Schritt ein, um die sechs Betten der Liegekabine auszuklappen.
Dorian wählte das Bett in der Mitte auf der linken Seite, von wo aus er im Liegen weiter aus dem Fenster schauen konnte.
Erschöpft von der Reise und der unerklärlichen Anspannung, gab er sich erneut dem Rhythmus der Fahrt hin.
Die schweren Lider fielen ihm zu, und der Schlaf übermannte ihn.
Im Traum begann es.
Ein Kitzeln, wie das Laufen unsichtbarer Insekten, breitete sich auf seiner Kopfhaut aus. Dann kam der Atem.
Er Atmete tief ein und aus, aber der Rhythmus war fremd, hohl – nicht seiner.
Es war, als atmete jemand anderes mit seiner Lunge.
Eine Welle namenloser Verzweiflung überrollte ihn, eine Emotion, die nicht die seine war.
„Lass mich in Ruhe“, wollte er schreien, aber die Worte erstickten in seiner Kehle. Alles, was herauskam, war ein würgendes, gurgelndes Geräusch.
Er kämpfte sich durch den Schlamm des Albtraums, bis er endlich, mit einem Ruck, erwachte.
Sein Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Sein Blick fiel sofort auf die Frau mit dem roten Haar, die ihm gegenüberlag und ihn mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen anstarrte.
„I-ist alles in Ordnung?“, stammelte sie.
Dorian versuchte, sich zu beruhigen. „Ja, es ist… es ist schon gut. Nur ein Albtraum.“
Er schloss die Augen, versuchte, seine Gedanken zu leeren, doch eine Frage brannte sich ungebeten in seinen Verstand: Sind hier Geister mit mir?
Sofort setzte die unnatürliche Atmung wieder ein. Sein Brustkorb hob und senkte sich in einem schnellen, puppenhaften Rhythmus.
Er konnte es nicht kontrollieren.
„Was ist los mit Ihnen?“, rief die Frau, deren Stimme nun vor Angst überschlug. Sie rutschte zur Bettkante. „Was stimmt nicht?“
„Ich glaube… ich glaube, ich kann mit ihnen kommunizieren!“, presste Dorian verzweifelt hervor, die Worte kämpften sich gegen den fremden Atemrhythmus. „Mit den Geistern! Wir sind nicht allein!“
Das Gesicht der Frau erstarrte zu einer Maske des Entsetzens. Ohne ein weiteres Wort sprang sie auf, griff nach ihrem Koffer und flüchtete hastig aus dem Abteil. Das surrende Geräusch der Schiebetür klang wie ein endgültiges Urteil.
Allein. Jetzt war er ganz allein mit Ihm.
Erschöpft sank Dorian in die Kissen zurück. Der Kampf hatte ihn seiner letzten Kräfte beraubt. Als der Schlaf ihn diesmal einholte, war er wehrlos.
Sein Körper setzte sich auf. Die Bewegungen waren ruckartig, wie die einer Marionette. Aus seiner Kehle drang ein Geräusch, das kein menschlicher Sprachapparat hätte formen können – ein tiefes, gutturales Knurren, durchsetzt von Klick- und Zischlauten. Dorian war nur noch ein Passagier in seinem eigenen Fleisch, ein ferner Beobachter, während diese fremde Präsenz Besitz von ihm ergriff. Irgendwo, tief in seinem schwindenden Bewusstsein, wusste er: Sie würden ihn nicht mehr aus dieser Fahrt entlassen.
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